"Wildlife" by Christel Heybrock, 2010

 

Christopher Winter

"Wild Life"

 


"Bone Trees" von Christopher Winter - eine moderne Version von Eva mit dem Apfel  (Acryl auf Leinwand, 2008). Das im Original 2 x 2,70 Meter große Bild ist Teil von Winters Ausstellung "Wild Life" in Mannheim 2010.
 Foto: Copyright Christopher Winter, Uwe Walter

 

Sitemap

Übersicht Bildende Kunst

 

02-11-2010

Die Zeit der Unschuld ist vorbei

„Wild Life“ – Bilder und Zeichnungen von Christopher Winter im Mannheimer Museum Bassermannhaus

 

Von Christel Heybrock

 

Die poppig bunten Farben, die unbeschwerten Kinder – das ist man ja gewöhnt von ihm. Aber auch, dass hinter der fröhlich plakativen Oberfläche alles ganz anders aussieht und dass Christopher Winters Bildern richtig eine Sprengkraft innewohnt, das ist so bei ihm, aber man sieht es nicht sofort, sondern muss zunächst das dumpfe Gefühl hinterfragen, dass hier etwas nicht stimmt.

 

Christopher Winter, 1968 im englischen Kent geboren, hat zu Deutschland, insbesondere zu Mannheim und der Rhein-Neckar-Region, eine enge Beziehung. Noch bevor er 1996 ein Studium bei Fritz Schwegler an der Düsseldorfer Akademie begann, war er Stipendiat der Stadt Mannheim (1993/1994) und stellte mehrfach hier aus, unter anderem 1994 im “Reiß-Museum“ – so hieß der heute als „Reiss-Engelhorn-Museen“ firmierende Sammlungskomplex damals noch. 2002 hatte er mit dem Werkzyklus „Bavarian Heaven“ eine freche Ausstellung im Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum – und 2010 ist er mit der Schau „Wild Life“ wieder in Mannheim:  im neu errichteten (aber noch nicht ganz eingerichteten) Museum Bassermannhaus, das ab 2011 eine hochkarätige Sammlung historischer Musikinstrumente beherbergt und damit Teil der Reiss-Engelhorn-Museen ist. Winter lebt heute in Berlin und ist mit Ausstellungen rund um den Globus präsent: fast zeitgleich mit der Mannheimer „Wild Life“-Schau zeigt er beispielsweise Arbeiten in New York.

 

Dass seine Bilder so erfolgreich sind, versteht jeder, der sie sieht: diese Farben, diese Frische! Noch dazu mutet er seinen Betrachtern keine schwierigen Abstraktionen zu, sondern setzt ihnen jeweils mindestens eine kecke Figur pro Bild vor die Nase. Zu seiner Beliebtheit als Person trägt sicher auch sein stets freundlich unkompliziertes Auftreten bei – dabei spielen sich in seinem Kopf wie in seinen Bildern hintersinnige Szenen ab, die alles andere als freundlich unkompliziert sind. Einige Beispiele aus „Bavarian Heaven“ sind in der Schau „Wild Life“ wieder zu sehen und haben von ihrer demaskierenden Energie nichts verloren.

 

„Bavarian Heaven“ entstand einst aus Eindrücken, die Winter zeitweise als Reiseleiter in Bayern machte, wobei seine Bilder vordergründig gängige Ansichtskartenmotive adaptieren.  Da tummeln sich Heidi und der Geißen-Peter in Dirndl und Lederhose auf der grünen Alm vor schneebedeckten Gipfeln, da gibt es Innen- und Außenansichten vom Hitler-, Göring- und Kehlsteinhaus zu bewundern nebst den Bunkeranlagen am Obersalzberg, es winkt das „Himmlische Berchtesgaden“ mit Edelweiß, Gipfelkreuz, Seilbahn und See, das Münchner Oktoberfest saugt den Blick des Betrachters in die (leere) Tiefe eines farbenfrohen, zentralperspektivischen Menschengewimmels im Bierzelt, und rotbackige Kinder spielen vor sakralem Goldgrund in eifriger Naivität die Leidensgeschichte Jesu nach: Christus vor Pilatus, Christus an der Geißelsäule, bei der Kreuzigung, bei der Auferstehung.

 

In der „Bavarian Heaven“-Ausstellung von 2002 im Ludwigshafener Hack-Museum konnte einem der Atem stocken angesichts dieser Mischung aus Grauen, Harmlosigkeit und Religion. Wahrscheinlich hat Winter genau diese Mischung in Bayern Tag für Tag erlebt – nicht nur als selbstverständliche Lebenshaltung, sondern auch als Mentalität bei den Touristen, die gierig den Ansichtskartenständer nach dem Obersalzberg, den frommen Passionsmotiven und „dem“ knackigen Heidi plünderten – Urlaubsgrüße und Souvenirs in aller Biederkeit. Die Schau zeigte, wie erschreckend nah diese Gedankenlosigkeit an purer Brutalität ist und wie viel bequeme Verweigerung von Nachdenken zu dieser Art von Belustigung gehört. Der häufig vertretene Standpunkt, Kitsch sei gut fürs Gemüt und schade ja niemand, wurde von diesen Bildern ad absurdum geführt: Bayernkitsch war hier sichtbar eine Gratwanderung entlang der Schmerzgrenze und oft darüber hinaus, denn es wurde deutlich, dass die Blindheit der kindlichen Akteure nicht nur die Blindheit der Touristen nährt, die sich an den „drolligen“ Motiven ergötzen, sondern auch eine ganze Industrie.

 

 In der Mannheimer „Wild Life“-Schau 2010 versammelte Winter Arbeiten aus verschiedenen Themengruppen, wobei erneut Kinder seine Protagonisten abgeben und einige bayerisch-folkloristische Motive wieder dabei sind: aus der Bildergruppe „Berchtesgaden Postcards I“ beispielsweise die Szene, in der ein neugieriger Nichtsnutz in bestickter Lederhose und gestrickten Wadenschonern einem kleinen Mädchen den roten Rock lüpft, während es sich ahnungslos vor ihm über eine Rampe beugt („Heavenly Bodies“, 2002). Auch ein Gemälde wie „The Trophy Tree“ (2008) ließe sich diesem Umfeld zuordnen - da sitzt ein unschuldig den Betrachter anblickender Junge, bestickte Lederhose und Filzhütchen, in einer Birken-Astgabel und hat seine Trophäen am Baum aufgehängt: kleine Püppchen (den Mädchen geraubt?), Vogelfedern, gebleichte kleine Tierschädel. Gefunden hat er diese Dinge offenbar nicht ... und unschuldig ist offenbar nur sein Gesicht.

 


"Golden Fountain" - Milch? Sperma? Im Zwischenstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein probieren Jungs Rituale mit ihren Körpern aus, die alles andere als unschuldig sind. Dazu zählt auch die maskenartige Bemalung. Das 1 x 1,40 Meter große Bild entstand 2008 und erinnert an den Künstler Bruce Nauman.
Foto: Copyright Christopher Winter, Uwe Walter

 

Der Titel „Wild Life“ deutet vieles an. Das Leben halbwüchsiger Kinder in der Natur – und das, was in ihnen steckt und langsam erwacht: Jagdtrieb, Besitzgier, Rituale, Macht, Obszönität, Neugier auf Gefahren. Vielleicht ist die Entwicklungsphase der Pubertät symptomatisch für das, was zutiefst auch noch in Erwachsenen steckt, jedenfalls kann man sich auch als Betrachter mitunter ziemlich ertappt fühlen. Ein Mädchen auf der Schaukel, im Schwung fast liegend und das Röckchen hochgeflogen, guckt in einer unnachahmlichen Mischung aus Ahnungslosigkeit und Laszivität aus dem Bild heraus. Ein anderes junges Gör sitzt breitbeinig in einer Astgabel und hat beziehungsreich einen Apfel angebissen, während es den Betrachter fast auffordernd ansieht ("Bone Trees", Foto oben). Zwei Jungs mit schwarz bemalten Gesichtern sprühen in hohem Bogen eine weiße Flüssigkeit aus ihren Mündern, nein, sagt Winter, Wasser sei da nicht gemeint, Wasser sei ja durchsichtig, natürlich könnte es Milch sein – aber auch Sperma.

 

Also von unschuldigen Kindern kann da keine Rede sein, und ein Hinweis auf die Vielschichtigkeit in der Malerei Christopher Winters ist auch ein harmloses kleines Bild mit nostalgischer Villa auf einem Hügel – das ist doch dieses unheimliche Haus aus Hitchcocks „Psycho“, aber es sieht in seiner Lebkuchenfarbe mit den bunten Zuckerverzierungen so niedlich aus! Nur vordergründig spiegeln Winters Bilder das Bewusstsein und Verhalten pubertierender Jugendlicher: das Bemalen von Gesichtern, die erwachende Sexualität, die Auseinandersetzung mit Drogen und unkontrollierbaren Risiken. Das Mädchen auf der Schaukel ist mehr als das Bild eines spielenden Kindes. Zum einen ist das Motiv kunsthistorisch vorbelastet vor allem durch die delikat-frivolen Gemälde Jean-Honoré Fragonards (1732-1806), zum andern deutet das Hin- und Herschwingen beim Schaukeln nicht nur den Sexualakt an, sondern überhaupt ein zielloses Pendeln zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erde und Luft, zwischen verschiedenen Orten und verschiedenen Lebenszuständen.

 

Winter hat die Jugendlichen der „Wild Life“-Schau - abgesehen von der „Ghost“-Serie, die von Figuren unter Gespenster-Betttüchern dominiert wird – sämtlich in der freien Natur angesiedelt, wobei weiße Birkenstämme eine prägende Rolle spielen. Die blattlosen Bäume bilden einen markanten Kontrast mit den Figuren, für Winter sind sie offenbar ein Element abstrahierender Formstabilität im mitunter rätselhaften Geschehen. Mehrfach findet sich das Motiv, dass Birkenstämme wie ein Vorhang vorm dunklen Hintergrund stehen und ein nur halb zu sehendes Kind zwischen den Bäumen hervorlugt, um etwas zu beobachten: Was sieht es da, selber halb verborgen? Etwas, was es nicht sehen soll? „Us and Them“ (Wir und Die) heißt ein 5 Meter langes Gemälde aus dem Themenkomplex „Spook-a-rama“, auf dem ein Junge mit nacktem Oberkörper einen verbotenen, zumindest geheimen Vorgang betrachtet. Auf dem Bild „Deep Forest“ aus dem Zyklus “Tales of Trust“ ist es das sprichwörtliche Rotkäppchen, das zwischen Birkenstämmen aus dem Bild heraus sieht mit ebenso klarem wie sanftem und beharrlichem Blick. Mit solchen Bildern tritt man als Betrachter fast in einen imaginären Dialog, fühlt sich beinahe ertappt. Das Rotkäppchen – eine unschuldig faszinierte Voyeurin? Freilich sind auch wir, die Betrachter, Voyeure eines rätselhaften Geschehens: Das Sehen selbst, die Rezeption von Bildender Kunst an sich, wird hier mit thematisiert.

 

Der Birkenwald in einer geheimnisvoll dunklen, nächtlichen (?) Leere übt eine schwer zu definierende Suggestion aus. Winter verstärkte diesen Effekt noch in der Ausstellung, indem er eine sieben Meter lange Wand von oben bis unten so bemalte und dort Bilder hängte. Die Figuren tauchen nun zwischen den weißen Stämmen wie aus dem Nichts auf. Die Dunkelheit – ist es das, was die Kinder zurücklassen, wenn sie aus dem Bild herausblicken? Ist der Vorhang aus weißen Stämmen die Pforte, durch die sie ihre Zukunft in Augenschein nehmen und die sie durchschreiten müssen? Was ist passiert auf dem Bild „Burn“, wo ein Junge mit rauchgeschwärzter Wange zwischen brennenden Birkenstämmen steht? Ist der Brand in ihm selbst und das Bild die nach außen gekehrte Imagination in seinem Kopf? In welcher Leidenschaft brennt er – Hass, Gier, sexuelles Verlangen, undefinierbares Drängen? Assoziationen des Betrachters lassen sich in ihren Möglichkeiten von der poetisch-irrealen Szene kaum begrenzen.

 


"The Illusionist" - der Magier, der die Frauen willenlos schweben lässt. Die Allmachtsfantasie inmitten der Bergwelt ist ein 2009 entstandenes Acrylbild (2,30 x 1,80 Meter).
Foto: Copyright Christopher Winter, Uwe Walter

 

Eine eigene Thematik bilden Szenen, in denen Kinder sich bewusstseinserweiternden Drogen aussetzen. Da schweben beispielsweise irrlichternde kleine Kugeln um ihren Kopf und in ihrem Mund, so zauberhaft wie gefährlich. Der Genuss von Giftpilzen lässt ein Kind sich wie in einem Wald aus gigantischen Pilzen verlieren, und ein Junge fantasiert sich zum Zauberer, der ein liegendes Mädchen in der Luft schweben lässt: „The Illusionist“ freilich könnte auch wieder eine erotische Fantasie sein, eine Machtfantasie, in der das Mädchen ihm willenlos ausgeliefert ist. Machtausübung ist auch das Thema des Bildes “Salamander“ aus der Serie „Virgin Forest“: Die Hand eines sonst nicht sichtbaren Kindes drückt den Kopf eines Jungen gewaltsam auf den Erdboden, während am geöffneten Mund des Opfers ein Feuersalamander vorbei läuft. Menschenkopf und Tier bilden eine kaum definierbare, intensive Spannung – Wehrlosigkeit des einen, der sich sonst als Herrn über das Tier aufspielt, Freiheit des andern, das ihm einfach in den offenen Mund spazieren könnte ... die grundsätzliche Fremdheit zwischen den beiden Körpern wird plötzlich einer Beziehung ausgesetzt.

 


"Velocity Boy (riding with the Destroying Angels)", Erfahrung nach dem Genuss von Giftpilzen, eine ebenso poetische wie gefährliche Szene, bei der farbige Lichtkügelchen durch die Luft und mitunter in den Mund schweben. Der Verlust von Selbstkontrolle gehört zu den Grenzauslotungen, denen Menschen sich immer wieder aussetzen. Das Acrylbild entstand 2009 (1,90 x 1,90 Meter).
Foto: Copyright Christopher Winter, Boris von Brauchitsch

 

In der Zwischenwelt, in der sich Winters Bildszenen abspielen, sind auch die schwarzen Gesichts- und Körperbemalungen der Jungen von Bedeutung. An Masken oder die Bemalung primitiver Kulturen erinnernd, machen sie die Frage der Jugendlichen nach ihrer eigenen Identität sinnfällig. Wer bin ich? Bin ich der, der wie ich aussieht? Wer bin ich, wenn ich anders aussehe? Wie verwandelt mich das fremde, bemalte Aussehen? Kommt etwas Tierhaftes, Wildes, Archaisches aus mir hervor, das ich nicht kenne? Wenn ich das hervorhole, wie weit kann ich es kontrollieren? Winter spricht dabei von der Doppelbödigkeit der menschlichen und beileibe nicht nur der Existenz pubertierender Jungen. Als vorgeblich zivilisiertes Wesen hat der Mensch seine natürliche „Wildheit“ nach innen verdrängt. In der Pubertät gewinnt man ein Bewusstsein davon – später, so sollte der Betrachter selbstkritisch folgern, dienen Masken der Verschleierung und nicht der Betonung dieser Tatsache: Die Steinzeit in uns lassen wir dann lieber im Verborgenen arbeiten.

 

Info:

- Christopher Winter, „Wild Life“, Museum Bassermannhaus, Mannheim, C 4,8, vom 23. Oktober 2010 bis 9. Januar 2011, www.rem-mannheim.de